Ich bin mit meinen Freunden Ralli und Wolfi im Sommerurlaub. Genauer: auf den Lofoten – einer norwegischen Inselgruppe zwischen Nordkap und Polarkreis. Wir wollen wandern. Beziehungsweise: Die Jungs wollen wandern.
Super ausgerüstet (Adidas High-Tops, H&M-Polyesterjacke, Nüsschen) beginnen wir den anstrengenden Aufstieg über Grasweiden, an Bergseen vorbei und durch Geröllfelder. Ich bin zwar fernab von trittsicher und ausdauernd, irgendwie schieben die Jungs mich aber immer weiter die Berge hinauf. Vor allem mit Energydrinks und angeblichem Wi-Fi werde ich gelockt.
Ich bin nach etwa einer Stunde Marsch noch fröhlich am plappern, als ich in Wolfis Gesicht ein paar Meter vor mir das Entsetzen sehe. Langsam nähere ich mich ihm. Vor uns endet der grasige Vorsprung, ein riesiger Block Eis ragt waagerecht in den bewölkten Himmel. Dahinter kommt nichts. Einen Kilometer weiter unten erstrahlt eine Bucht in Türkis. Wie ich mich nun erinnere, bin ich nicht nur eine miese Kletterin, sondern auch nicht schwindelfrei.
Überrumpelt vom Anblick werfe ich mich zu Boden. Mein Körper schnappt wie ein Schweizer Taschenmesser in die Embryonalposition. Es regnet auf mich herab. Ich hyperventiliere. Mir war einfach nicht klar, dass der Berg irgendwann zu Ende sein würde. Und auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass ich aus meiner Liegeposition wo runterfalle, fühle ich mich wie Alice im Wunderland bei ihrem endlosen Sturz in den Kaninchenbau.
Keiner weiß, wo wir lang müssen. Ich bin flach an den Boden geklebt. Höhenangst kicking in. Es geht weder zurück, noch vorwärts. Der Wind ist eisig. Ich werde am besten einfach sterben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hebt Wolfi mich wie einen nassen Sack vom Boden auf. „Komm, wir machen eine Polonäse.“ Ich folge ihm heulend, mit zitternden Knien und gebückt wie Gollum. Meine Finger krallen sich in seine Schultern.
“Auf einem Baum ein Kuhukuck … Simsalabimbambasaladusaladim. Auf einem Baum ein Kuhukuck … saß.”
Wir schieben uns Meter um Meter über die (Achtung, Anwärter für das Unwort des Jahres!) Felsnasen. Ich singe Kinderlieder, um mich abzulenken. Eine Hand habe ich von Wolfi gelöst und zur Scheuklappe umfunktioniert. Ähnlich wie bei der Zerstörung Sodoms und Gomorras darf ich einfach nicht mehr zurück gucken. Ich würde beim Anblick des Abhangs vermutlich implodieren.
Ich weiß, ich neige zu Übertreibungen, aber das hier ist das Schlimmste. Alle Zahnarztbesuche, Familienfeiern, Singlebörsen der Welt kommen nicht annähernd an diesen Moment heran. Sogar die Jungs werden immer ruhiger. Einer geht vor, um den Weg zu checken, der andere zieht mich an der Hand. Man hört nur noch Schafsglocken in der Ferne. Und mein Wimmern.
Über einen ungünstig gelegenen Felsen muss ich eine Bauchrolle machen. Unter mir droht der Abgrund. Wolfi klebt am Felsen – wie auch immer er dort physikalisch überhaupt haften kann – und stemmt meinen Hintern hoch. Ralli zieht von der anderen Seite an meinem Arm. Ich wiederhole stur mein Mantra des Tages: “Fuck! Fuck! Fuck! Fuck! Fuck!”
Wir machen eine Pause. Endlich darf ich den versprochenen Energydrink leeren. Bei Wolfi gehen alle zehn Minuten E-Mails ein, deren Empfang mit einem Beep bestätigt wird. Gute Netzabdeckung. Ralli erklärt mir, wie toll ich gerade meinen Quadrizeps trainiere. Ich hasse meinen Quadrizeps! Irgendwo sind Schafe und gucken blöd.
Nachdem uns der letzte steile Abstieg aus 400 Metern gelungen ist, küsse ich den Asphaltboden voller Ehrfurcht. Hinter uns liegen acht volle Stunden Terror. Nie wieder werde ich mich über ebenerdiges Terrain beschweren.
Dieser Text erschien auch im Intro-Magazin. Alle meine Intro-Texte gibt es hier.
Außerdem interessiert dich noch der 1. Teil dieser Norwegen-Reise und Verkatert in Garmisch. Klar.