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U8 und die Leinestraße – Gefahren, Gerüche, Geschissenes.

Mai 8th, 2012|4 comments

Heute möchte ich weg von den üblichen Themen (Männer, Kühlschränke, Waxing) und hin zu etwas mehr Kultur. Deswegen habe ich mir ein geschichtsträchtiges, öffentlich zugängliches Bauwerk ausgesucht und es auf seine Bedeutung in der heutigen Zeit erforscht – den U-Bahnhof Leinestraße.

Namensgebung:
Angeblich ist die Leine ein Fluss in Niedersachsen und deshalb Namenspatron des Bahnhofes. Jeder, der sich ein bisschen in Neukölln auskennt, weiß aber, dass es sich hierbei um einen Reminder für alle Hundebesitzer à la „Alter, nimm deinen scheiß Dobermann an die Leine“-Straße handelt.

Historie:
Der U-Bahnhof Leinestraße ist eine Station der U8 in Neukölln. Er wurde 1929 nach einer Bauzeit von zwei Jahren eröffnet und wird im Bahnhofsverzeichnis der BVG mit L abgekürzt. Diese sachliche Perle der Berliner Verkehrsbetriebe war bis 1996 Endbahnhof der U-Bahnlinie 8, erst dann erfolgte die Erweiterung bis zum heutigen Endbahnhof Hermannstraße. Im 2. Weltkrieg wurden die Tunnelanlagen als Luftschutzbunker genutzt.
Der Bahnhof ist nicht barrierefrei (für alle Krückengänger wie mich also diesbezüglich eher unangenehm) und blieb seit seiner Eröffnung nahezu unverändert. Deswegen regnet es vielleicht auch immer rein.

Handel:
Im Bahnhof Leinestraße findet unheimlich viel kultureller Austausch statt. Vor allem, wenn es um Drogen geht. Denn hier ist ein Unique Selling Point für Substanzen aller Art. Meist im Mund transportiert passieren die Übergaben in Sekundenbruchteilen und können von Laien auch durchaus mit einem „Ich hab da was zwischen den Zähnen klemmen“ gefolgt von einem coolen Handshake zweier Lederjackenträger verwechselt werden. Nach jeder aus Versehen bemerkten Übergabe sieht man sich selbst mit Messer im Rücken oder im Zeugenschutzprogramm der hiesigen Polizei. Am liebsten trage ich persönlich deshalb tagsüber ein Shirt mit der Aufschrift „No worries – ich kann mir wirklich keine Gesichter merken.“

Marketing:
Die grünen Hintergleis-Werbeflächen sind fast alle leer. Das macht natürlich stutzig. Wird hier keine kaufkräftige Community erwartet? Sind die Neuköllner es etwa nicht wert, beworben zu werden? Für nur 5-15 Euro am Tag könnt ihr eine diese verrotteten Flächen übrigens mieten. Weitere Infos gibt es auf www.draussenwerber.de.
Eine einzige Firma hat sich getraut, diesen attraktiven Standort für sich zu nutzen: Picaldi.

Schriftzug: Picaldi – Protect the Original.
Protagonisten: Drei junge Männer mit Migrationshintergrund, die einen Basketball tragen und Jogginganzüge in Weiß und Hellgrau mit großen Logos. Außerdem: Zwei tussige Mädchen mit viel zu kurzen Jeansröcken.
Setting: Eine abrissreife Fabrikhalle. Edgy!
Nachbearbeitung: Der digitale, polarisierende Effekt, der auf dem Hintergrund liegt, verdient ein Eins A mit Sternchen.
Trivia: Das Label selbst warb zeitweise mit dem Claim: „Nix Aldi – Picaldi“ und verdient schon alleine deswegen fette Props. Schön, dass du in Neukölln bist.

Publikum:
Das ist neben Crime-Faktor die eigentliche Stärke des Bahnhofs. Hier geben sich Obdachlose, junge Mütter, Türken, alt-berliner Originale und Hipster die Hand. Wenn man einen Menschen sieht, den man als generell überlebensfähig einstuft – nickt man ihm in der Regel kurz und anerkennend zu – so wie Europäer in Japan erkennt man sich hier an Styling und Aussprache.
Mit einer derzeitigen Gehbehinderung fühle ich mich erstmalig völlig integriert ins Bahnhofsgeschehen. Während ich die Treppe hinunterhumple, grüßt mich eine Oma, die sich gerade nach oben müht. Mit Turnschuhen, Jogginghose und der royalblauen Gehhilfe sehe ich aus wie der Durchschnittsneuköllner. Ein junger Türke lässt mir den Vortritt in die U8. Wenn ich die Krücken nicht mehr brauche, werde ich sie vielleicht trotzdem noch benutzen. Die öffnen Tor und Tür in die Herzen aller sozialen Schichten. Nur einen Fahrstuhl bräuchte ich noch zu meinem Glück. Treppen sind out!

Flirtfaktor:
Volle Punktzahl auf dem Flirtbarometer. Hier bleibt man nicht lange alleine. Und die Auswahl ist riesig! Vom Besoffenen, der gerne seine Flasche teilen würde, bis zum 10-Jährigen mit Bock auf Analverkehr ist wirklich alles dabei.

Interieur:
Die Wände und Säulen sind mit Keramik-Fliesen verziert, die von der Richard Blumenfeld Veltener Ofenfabrik AG angefertigt wurden. Grün, die Farbe der Hoffnung. Toll. Wofür aber dieses blasse Pantone 579 steht, bleibt eines der Geheimnisse des Charakterbahnhofs.
Sprühtechnisch haben zwei Fraktionen das Gelände in fester Hand: die Neukölln Hustlers und Ficka 94. (Ist das etwa sein Geburtsdatum???)
Die einzigen Sitzmöbel stellen massive graue Bänke aus Holz dar. Definitiv zu schwer zum Wegtragen. Ohne jegliche Abtrennung vom Nachbarn laden sie zum Kuscheln ein – wer keinen Partner hat, findet ersatzweise Spucke, Bierdosen, Zigaretten und Hunde. Mit einem schönen Doppelkorn kann man sich hier mit dem/der/den Liebsten an einem Samstag Abend niederlassen und einfach mal gucken. Die Coke Opera läuft  jeden Tag.

Multimedia:
Der Internetempfang im Bahnhof ist erbärmlich. Da kann man lange versuchen Google zu laden … Im Treppenhaus nördlicher- und südlicherseits brechen bestehende Telefonverbindungen ausnahmslos ab. Damit bin ich nicht einverstanden. Wie gründet man noch mal eine Bürgerinitiative?

Gesamt-Experience:
Auch wenn es an Shoppingmöglichkeiten eindeutig mangelt, punktet der U-Bahnhof Leinestraße klar auf (zwischen)menschlicher Ebene. Es zählen keine Äußerlichkeiten, hier wird noch auf die inneren Werte – Weirdness & Promille im Blut – geachtet. Die Stammkundschaft hat dabei keine Angst vor großen Gefühlen. Endlich ein Ort, an dem man so sein kann, wie man ist.
Eine Oase, die zum Verweilen und Gentrifizieren einlädt. Erfrischend unprätentiös mit dem nötigen Crime-Faktor für den kleinen Kick/Schuss zwischendurch. Unbedingt empfehlenswert.

 

Gerüche:
Die Gerücheküche brodelt in der U8 angeblich besonders gnadenlos. Hört man ja immer wieder. Zeit, den Weg zur Arbeit für eine fundierte Geruchsanalyse zu nutzen. Febereze-Frische versus Stinkbombe.

Ich platziere mich auf dem Arbeitsweg von Neukölln nach Mitte strategisch geschickt am Gangplatz einer Vierer-Sitzgruppe. Alles besetzt mit recht durchschnittlich anmutenden Fahrgästen. Ich nehme eine volle Nase. Um ehrlich zu sein, rieche ich aber nur meine eigene Handcreme. Weleda-Sanddorn. Wo sind denn jetzt Urin, Schweiß und billige Aftershaves? Ich bin etwas enttäuscht. Duschen die meisten Neuköllner also doch? Sollte ich am End selbst die einzige Geruchssensation bleiben? Dieses Sanddorn ist aber auch aufdringlich. Na, vielleicht habe ich morgen mehr Glück. Oder vielleicht nachts. Wer trägt um neun Uhr morgens schon Schweiß und Döner? Ich bleib dran.

Ich fahre und fahre und fahre. Tagelang. Wochenlang. Meine stinkenden Gelüste werden ignoriert. Es riecht mindestens so gut wie in der U6 oder U7. Plus Sanddorn. Das Vorurteil, man könne ohne Mundschutz kaum in die U8 steigen, bleibt unbewiesen. Ein einziges Mal in zwei Monaten zieht ein Penner durch die Reihen und verbreitet einen Gestank, dessen Zusammensetzung mir ein Rätsel bleibt. Ich tippe auf eine Kopfnote von Schweiß, eine Herznote von Schnaps und eine entschiedene Basis aus Scheiße.
Aber zählt das? Reicht das, um den Ruf der U8 zu bestätigen? Ich finde nicht.

Fazit:
Alles, das in der U8 aufdringlich riecht, sind ich und meine Handcreme. Ich entschuldige mich hiermit bei allen Fahrgästen für die Unannehmlichkeiten der letzten Jahrzehnte – auch generell für alle Zugverspätungen, winterbedingten Ringbahnausfälle und kaputten Fahrkartenautomaten. Ich gelobe, altruistisch wie ich bin, ab nun an nur noch ph-neutrale Deokristalle zu benutzen und meine Hände mit Vaseline einzucremen.

Hiermit erkläre ich die geruchslose U8 für eröffnet!

 

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4 Comments

  1. das sollte auf jeden Fall in jeden Berlin-Reiseführer aufgenommen werden: dass die U8 entgegen aller Vorurteile nicht stinkt- sondern nur ab-und an nach Sanddorn gemüffelt hat.

    Danke, jetzt wird der Tag doch noch gut!

    Gute Besserung für das Beinchen und so,

    Käthe.

    • Jule Müller (Author)

      Hui. Danke dir. Bin wieder so gut wie fit und verteile weiter fleißig Sanddorn in der Bahn. x

  2. Isa

    Bin gerade durch Zufall auf deinen Blog gestoßen und ich bin wirklich begeistert. Super Schreibstil und tolle Berichte. Ich hab auch mal in der Ecke gewohnt (Kienitzerstr.) und musste täglich mit der U8 ab Leinestraße, oder wahlweise Boddinstraße, – auch sehr empfehlenswert, fahren.

    Das ist jetzt aber leider schon wieder 2 Jahre her und wenn ich das so lese, vermiss ich die gute Leinestraße schon. Im Moment studier ich (gezwungenermaßen) in Stuttgart und hier gibt es in der S-Bahn sogar erste Klasse Wagen. Da lob ich mir doch die U8, war auf jeden Fall irgendwie spannender!

    • Jule Müller (Author)

      Eine 1. Klasse würde ich gerne mal in der U8 sehen. Es gäbe bestimmt Bierdosen und Selbstgedrehte zum Vorteilspreis…

      Danke für deinen lieben Kommentar und Grüße nach Stuttgart.

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