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Sarg bei Roy. Hardcore mit Glitzerschuhen.

Juli 30th, 2012|2 comments

Ich sitze mit M. und C. in der Küche. Die beiden hören Musik, wo das Geschrei von Leuten den Gesang ersetzt. Faszinierend. Sie überreden mich, mit ihnen auf ein halbillegales Konzert zu gehen. Zu Sarg. Bei Roy. Aufregend.

Wir radeln am Kanal entlang, es ist dunkel. Dann geht es in eine kleine Gasse, in der sich Autowerkstätten befinden. Ganz am Ende halten wir vor einer stillgelegten Fabrik. Hier ist es. Wir schließen die Räder an und laufen die Treppen hoch. Im Flur stehen Holzpaletten, Spiegel, Blech und rote Plastikbojen. Ich stolpere im zweiten Stock über eine kaputte Steinstufe.

Der Einlasser will einen Betrag zwischen 6 und 8 Euro von mir haben. Geld? Ja gibt es hier denn keine Gästeliste?
Ich zahle fairerweise 6.

Drinnen sind mindestens 40 Grad. Es ist unerträglich. Aber ich darf nicht meckern. Das erwarten die nur von mir. Ich bin cool und credible. Ich kann mindestens eine Blink 182 Hook anstimmen und hatte mal einen zweireihigen Nietengürtel.

K. guckt auf meine Füße. ”Was hast du denn da an?”
“Goldene Glitzersandalen mit Perlenbesatz.”
“Damit Jule glänzen kann beim Stagediven”, erklärt C. Ich meine, leichte Ironie in ihrer Stimme hören zu können.

Wir gehen zur Bar. Das Getränkesortiment hängt an Schnüren von der Decke. Ich verkneife mir, nach Sekt auf Eis zu fragen und nehme einen lauwarmen Cider. So anpassungsfähig, dass ich richtiges Bier trinke, bin ich dann doch nicht.
“Lieber stärker oder lieber schwächer?”, werde ich vom Haarkeeper (haariger Barkeeper) gefragt.
“Mach ruhig stark, heute gebe ich es mir dreckig.”

Die erste Band spielt. Ich tue interessiert. Es ist auf jeden Fall kein Hardcore. Das erkenne ich. Es hat einigermaßen Melodie. Etwa zehn Minuten mische ich mich unter die Zuschauer. Keiner pogt. Sogar ich nicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es gibt Gemeinschaftstoiletten. Natürlich. Meine letzten Erlebnisse auf einer Schwulenparty waren eher unglamourös. Ich stelle mich an. Der Raum ist verziert mit Worten, Aufklebern und Postern. Es gibt sogar einen Spiegel! Dass darüber ‘You are beautiful’ steht, finde ich gut. Man sollte sich auch wirklich nicht schämen, nur weil man Christina Aguilera hört.

Zwei Hardcorer mit Plugs kommen aus der Kabine. Zusammen. Ist man ja sonst nur von Technofreunden gewohnt. Die haben bestimmt einen Schnaps getrunken, ein Schnitzel gegessen und Sex gehabt. Das darf man in der Öffentlichkeit nämlich bei denen nicht. Hab ich gehört. Ich nicke ihnen anerkennend zu. Ich verrate euch nicht, Jungs.
Auf Klodeckel und -brille kann man eine Geschichte lesen.

Dann spielen Sarg. Ich bin mental drauf vorbereitet, dass es mir nicht gefallen wird.

Es ist laut und schnell und ich verstehe kein Wort.
“Was ist das für eine Sprache?”, frage ich C.
Wir hören eine Weile konzentriert zu und einigen uns dann auf “Englisch, Deutsch oder Polnisch”.

So schnell wie der Drummer auf seine Trommeln eindrescht, kann man gar nicht spielen. Wirklich. Meine Augen können nicht folgen. Meine Ohren eh nicht. Der Sänger stirbt. Zumindest schreit er so. Jetzt macht auch der Bandname Sinn. Sarg ich mal so.

(Fun Fact: Meine Mutter hat mal im Bestattungsinstitut gearbeitet und auf unserer Fensterbank stand jahrelang ein kleiner Miniatur-Holzsarg für Stifte. Den Namen finde ich also top.)

Ein kleines Lächeln, ein hübsch gesungener Refrain, das hätte mir gefallen. Aber nein, die knüppeln wie besessen auf ihre Instrumente ein. Jeder für sich. Der Crowd gefällt es.

Mir drängt sich ein Gedanke auf: Haben hier vielleicht alle anderen ein Brain, das komplexe, unmelodische Musik besser verarbeiten kann als meines? Bin ich mit einem Weichspülerpop-Verständnis bestraft? Springe ich etwa nur auf 1. Strophe, Refrain, 2. Strophe, Refrain, Bridge, Refrain, Refrain an??

Das fiel mir schon sowohl bei klassischer Musik als auch bei Hiphop auf. Immerhin kann ich die Arbeit an den Instrumenten wertschätzen. Die Musik selbst bleibt mir ein ähnliches Rätsel wie Kornkreise in Neuruppin.

Soll ich so tun, als fände ich es voll geil? Um dazuzugehören? So wie mit Arte früher? Vielleicht besser nicht. Sonst werde ich noch entlarvt.

Wenigstens ist den anderen genau so heiß wie mir. Das verbindet. “Puh, ich schwitz wien Schwein”, trifft auf Verständnis – egal ob in der Philharmonie oder hier bei Roy.

Nach dem Konzert sitzen wir in einer Gruppe auf dem Boden vor der Fabrik. (Und das mit meiner weißen Hose!)
M. fragt mich: “Und, Jule, wie fandest du es? Du hörst doch eher so Incubus.”
Voll auf die Zwölf. Wenn Incubus mir im normalen Leben schon peinlich ist, kriege ich in dieser Kulisse sofort ein faustgroßes Magengeschwür.
“Ach, danke, gut.”

Nach zwei Flaschen Cider und zwei Zigaretten bin ich um kurz vor eins reif fürs Bett und radle als erste nach Hause. Na gut, vielleicht bin ich eben doch nicht so Punkrock, wie ich früher immer dachte.

 

Leute, die ihr Hardcore mögt, bitte checkt Sarg aus. Ich habe mir sagen lassen, die sind der Hammer.
Danke. Eure Mutter.

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2 Comments

  1. Habe ich prompt ausgecheckt. Da ich im Büro sitze, muss ich mich auf die Optik der Jungs verlassen. Find ich gut! Nächstes mal komme ich mit.

    • Jule Müller (Author)

      Ja. Optisch natürlich top. Nächstes Mal kommst du mit. Oder gehst als meine Vertretung.

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