Es ist der 21. Februar 2011. Ich sitze im Büro in Mitte. Alle Kollegen/Chefs sind schon gegangen. Gleich soll es zu Kiki Cools Geburtstags-Meet-Up gehen. Cathi kommt vorbei, um mich abzuholen. Sie ist zum ersten Mal hier. Es ist kurz nach 20 Uhr.
„Voll gemütlich hier. Wäre eine tolle Wohnung. Zeigst du mir auch noch das Dach?“
„Klar. Sollen wir Jacken anziehen?“
„Ach nee. Nur kurz gucken.“
Wir klettern die kleine Stahltreppe nach oben. Ich öffne die Tür zum Dach. Cathi dreht auf der Hälfte wieder um mit den Worten:
„Ach, ich hol noch schnell mein Handy. Vielleicht kann ich ja ein schönes Foto machen.“
Dann kommt sie mir hinterher.
Auf dem Dach ist es sehr dunkel. Von Berlin sieht man nur wenig. Definitiv keine Photo-Op. Und es ist sehr kalt. Minus sieben sind ja heute.
„Puh, lass uns wieder rein. Mir ist kalt.“
Cathi geht voraus und bleibt an der Tür stehen. Ich frage mich, warum sie nicht reingeht. Der Wind peitscht mir um die Ohren.
„Und wie geht die Tür jetzt auf?“
„Wie jetzt? Die ist zu?? Aber…“
„Nee oder? Sag jetzt nicht du hast keinen Schlüssel…“
In meinem Gehirn herrscht Leere. Wie war das noch gleich mit der Tür? Was ist die Lösung des Problems? Ah, keine Panik, am besten erstmal rütteln.
Rütteln bringt nichts. Der Türknauf lässt sich nicht bewegen. Die Tür ist zu. Ich habe keinen Schlüssel.
„Das glaube ich jetzt nicht. Das KANN nicht wahr sein!“
Cathi starrt mich an. Ich starre die Tür an. So verharren wir.
„Denk nach, Cathi!“
„Handy! Ich habe ein Handy!“
„Sehr gut. Wir müssen jemanden anrufen. Nur wen?“
„Wer hat alles einen Schlüssel?“
„Ich weiß von vier Personen. Aber du hast die Nummern ja nicht. Julian! Ruf Julian an. Der kann dann R. anrufen. Ich glaub der ist in Köln, aber egal.“
Es klingelt. Julian geht nicht ran.
„Fuck, Jule – mir ist jetzt schon kalt!“
Julian ruft zurück. Ich rede langsam und deutlich.
„Hallo Jules. Es ist etwas schlimmes passiert. Du musst dich jetzt konzentrieren. Ich steh mit Cathi auf dem Dach des Büros. Wir haben uns ausgesperrt. Es ist sehr kalt und wir haben keine Jacken an. Du musst uns bitte helfen.“
„Boah, was? Auf so Action hab ich jetzt echt keinen Bock.“
„Ja nee is klar. Ruf bitte R. an. R. hat doch die Nummer von S. zum Beispiel. Jemand muss uns hier abholen. Ich wiederhole: Jemand MUSS uns hier abholen!“
„Okay. Mach ich. Ich meld mich dann wieder.“
Ich lege auf. Es ist still und dunkel auf dem Dach. Cathi tippelt von einem Fuß auf den anderen. Ihr Blazer reicht gerade mal bis zu den nackten Ellenbogen.
„Gleich müssen wir anfangen zu kuscheln.“
„Wie wärs mit hüpfen? Wenn man hüpft, wird einem warm. Weiß ja jeder.“
„Verbraucht man da nicht zu viel Energie?“
„Vielleicht wenn man tagelang in der Kälte überleben muss. Aber nicht bei so einem kurzen Aufenthalt.“
Also hüpfen wir umher. Dabei müssen wir etwas lachen. Die ganze Situation ist eh sehr komisch. Wenn auch von leichter Panik durchfressen.
„Meine Füße sind jetzt schon so krass kalt.“
„Solange die Gliedmaßen wehtun, sind sie bestimmt noch am Leben.“
„Stimmt. Guter Bloodflow-Performance-Indikator. Merken wir uns.“
Julian ruft an.
„HALLO???%&$“
„Ey Jule, jetzt mal ganz ruhig. Du musst echt nicht so Panik schieben…“
„Ich weiß ja nicht, ob ich es erwähnt hatte, aber wir haben keine Jacken und es sind minus schießmichtot und wir haben uns auf einer Dachterrasse ausgeschlossen!“
„Ich erreiche R. nicht. Jetzt konzentrier dich mal. Welche Firmen sitzen noch in eurem Gebäude?“
„Diese Galerie. Und der Typ. Der hat seine Handynummer auf der Webseite. Aber die haben doch alle keinen Schlüssel?!“
„Okay. Ich meld mich wieder.“
„Nein, GEH NICHT!“
Dann ist er weg. Ich nehme Cathi in den Arm.Wir zittern.
„Das ist jetzt wie ein Kater. Man muss einfach nur ausharren und warten bis es vorbei ist.“
„Ich hasse Kater.“
„Ja, ich auch.“
„Oh Goooooooott, istdaskaltey!“
„Ab wann friert einem eigentlich was ab?“
„Bestimmt nicht so schnell. Bevor uns was abfriert, rufen wir die Polizei, okay?“
„Okay. Stell dir mal vor, ich hätte mein Handy nicht eingesteckt, um Fotos zu machen…?“
„Na, da haben wir ja quasi voll Glück gehabt! Dann hätten wir brüllen müssen und hoffen, dass uns jemand hört. Zum Beispiel die da drüben.“
Ich zeige auf ein wohlig warm erleuchtetes Dachgeschoss. Eigentumswohnung bestimmt. Ich erkenne einen Kamin und ein kuschelndes Pärchen.
„Wie die Bonzen alle nichts von der Welt um sich rum mitkriegen. So ignorant.“
Julian ruft an.
„JULIAN!!“
„Ich hab R. erreicht. Der ruft jetzt mal S. an. Hilfe naht.“
„Okay. Danke. Es ist auch nicht peinlich, dass mein eigener Chef mich und meine Mitbewohnerin vom Dach retten muss um kurz vor neun abends oder?“
„Öhm… Na wir sehen uns dann ja später bei Kiki.“
Wir legen auf. Zitternd hängt Cat mir an der Brust. Ich rubbel ihren Rücken. So muss das also gewesen sein bei The Day After Tomorrow. Nur bestimmt nicht so kalt. Der Wind pfeift uns durch die dünnen Klamotten.
„Da hinten, da kommt Dampf aus diesem Rohr. Vielleicht ist das warm?“
Ich laufe über das Dach zu dem Rohr, um meine Hände in den Dampf zu strecken. Die Wärme, die dort abgegeben wird, steht in keiner Relation zu der Kälte, die durch die Finger drängt, wenn man sie aus den Hosentaschen nimmt. Ich humple zurück zu Cathi.
„Du Jule, jetzt mal ohne Mist, ich fang gleich an zu weinen.“
„Wenn du JETZT losheulst, ist alles verloren. Dann muss ich Panik kriegen. Jetzt nur keine Panik kriegen! S. ist bestimmt schon auf dem Weg.“
(Randnotiz: Zu diesem Zeitpunkt liegt S. noch in der Badewanne und hört sein Handy nicht. Das wissen wir aber zum Glück nicht.)
„Pssst. Ich glaub ich hab was gehört! Ich glaub S. kommt!“
„Ehrlich?“
Wir lauschen an der Stahltür.
„Ach nee. Doch nicht. Sorry.“
„Was dauert das denn so lange?“
„Findest du ich hab am Telefon den Fakt, dass wir erfrieren mit genügend Nachdruck vermittelt?“
Eine Weile schweigen wir. Cathi atmet flach. Ich spüre meine Zehen nicht mehr. Auch gut, dann tun sie wenigstens nicht so weh.
„Jule, ich hab voll die Probleme zu atmen.“
„Halte durch. Gleich werden wir gerettet. Weißt du noch wie Rose und Jack damals im Pazifik zwischen Eisschollen umher trieben? Die hatten wirklich einen sehr starken Überlebenswillen.“
„Aber Jack ist doch gestorben?“
„Wir sind natürlich Rose. Okay, vielleicht kein so gutes Beispiel… Drinnen mach ich dir gleich einen Tee. Wir haben voll viele Sorten. Orange und Apfel und Pfefferminz und schwarzen Tee.“
„Schwarzen Tee mag ich nicht.“
„Dann vielleicht heiße Zitrone?“
„HEISSE Zitrone. Hach… Ich würde jetzt gerne Facebook checken, ich kann mich aber nicht bewegen.“
„Wir checken später Facebook. Ich wette unsere virtuellen Freunde denken gerade an uns und wünschen uns viel Glück. Das gibt mir Hoffnung. Dir nicht?“
„Hmm…“
Dann schweigen wir wieder. Es ist eine dreiviertel Stunde vergangen. Meine Energie sinkt von Minute zu Minute. Wenn Cathi nicht hier wäre, hätte ich bestimmt schon mit meinem Leben abgeschlossen. Wir zittern extrem. Sprechen fällt schwer. Denken sowieso. Es ist ruhig und dunkel. Das Lachen ist uns schon vor einiger Zeit vergangen.
Dann höre ich was.
„Ich glaube ich habe was gehört! Ich glaube S. kommt!“
„Das sagst du immer.“
„Nein, echt jetzt! Da ist er! Ich höre ihn!!“
Cathi hebt mühsam ihren Kopf. Wir starren Richtung Tür. Dann öffnet sie sich.
S. guckt uns entgeistert an. Wir fallen ihm entgegen.
Danke an alle, die maßgeblich zu unserer Rettung beigetragen haben.