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Bin ich eigentlich wahnsinnig? Ein Coming Out.

März 8th, 2013|4 comments

Es ist Januar 2012. Ich stehe vor der Haustür. Ich bin zwei Minuten zu spät. Ob das schon von meiner Zeit abgeht? Wäre mir auch recht. Erinnert sich hier jemand an den Zahnarztbesuch oder das Intimwaxing? Ähnliche Gemütslage. Wieder diese Stressflecken im Ausschnitt. Ich muss pinkeln, schwitzen, kotzen und flüchten. Gleichzeitig.
Das Bungee-Syndrom macht sich in mir breit. Immer wieder frage ich mich: Was zur Hölle mache ich hier? Bin ich eigentlich wahnsinnig?
Muss ja, schließlich klingle ich gerade zum ersten Mal bei meiner neuen Therapeutin…

Gibt es dort ein Wartezimmer? Muss ich dann mit Rain Man und Gilbert Grape in einem Raum sitzen und die Brigitte lesen? (Antworten: Nein, nein und nein.)

Eine Frau, die ich schon von ihrer Webseite kenne, öffnet mir die Tür und führt mich in ein Zimmer, in dem so gut wie nichts steht. Ein kleiner Tisch aus Glas, drei Stühle, das wars. Wo ist die Couch? Jedes Kind weiß, dass es beim Therapeuten eine Couch gibt. Für den Preis kann man ja auch wohl etwas Komfort erwarten! Sie zeigt auf einen Stuhl. Ich setze mich. Na, das kann ja was werden.

Auf dem Tisch sehe ich eine Flasche Wasser, einen Wecker, eine Packung Taschentücher und ein Klemmbrett mit Stift. Wenigstens ein paar Klischees werden mir noch erfüllt.

Die Therapeutin ist vielleicht 40 und eine Mischung aus Lehrerin und Milf. Ihre vereinzelten grauen Haare in der dichten Frisur lassen sie überdurchschnittlich weise aussehen. Vielleicht ist sie keine klassische Schönheit, ich finde sie aber toll. Sie redet wie jemand, der sich tatsächlich für meine Probleme interessiert. Wahnsinn.

Sie schenkt mir Wasser ein, dann fasst sie noch mal die Fakten zusammen, die sie sich in Telefonaten mit mir gesammelt hat. Ich habe Schüttelfrost. Ich möchte auf keinen Fall etwas sagen müssen. Dann stellt sie mir eine Frage. Jetzt erwartet sie bestimmt, dass ich irgendwas antworte.

Nicht, dass sie denkt, ich hätte einen Dachschaden? Der erste Satz muss sitzen. Ich muss sie sofort davon überzeugen, dass ich total sane bin. Das ist momentan tatsächlich meine größte Sorge. Sollte ich es mir ihr besprechen oder ist das wie wenn man “Google” googlet?

So richtig bekloppt bin ja auch gar nicht.
Okay, ich sortiere Dinge vielleicht zwanghaft nach Farben und muss das Licht immer dreimal an- und ausschalten, wenn ich das Haus verlasse.
Und ich habe da dieses Problem.
Oh Gott, ich wusste es! Ich hab nicht mehr alle Murmeln in der Hütte!! Schon bald werde ich die Upper und Downer wie Smarties fressen!

Ich breche, auch für mich eher unerwartet, in Tränen aus.
Die Therapeutin reicht mir eines der Taschentücher. Ich putze mir beschämt die Nase. Ich möchte mich verstecken. Es gibt hier aber nichts. Vielleicht hat das minimalistische Mobiliar sogar einen Zweck?

Wir sagen eine Weile nichts. Die Therapeutin nickt langsam und abwesend mit dem Kopf. So als würde sie nachdenken. Ich gucke auf die Uhr. 60 Sekunden vergehen. Das ist 1,60€! Bestimmt sucht sie nicht nach einer Lösung für mein Problem, sondern geht im Geiste die neue Pelz-Lösche-Kollektion nach geeigneten Nerzen durch. Ich räuspere mich. Sie guckt mich an. Dann sagt sie: Erzählen sie doch mal, Frau Müller.

Ich trinke einen extra großen Schluck Wasser, obwohl ich schon jetzt tierisch aufs Klo muss. Hauptsache Zeit schinden. Dann erzähle ich. Sie schreibt auf ihrem Klemmbrett alles wacker mit. Aus Kostengründen spreche ich sehr schnell. Währenddessen frage ich mich, was sie so notiert. In der Schule habe ich auch lieber Sonnen und Vierecke gemalt, als mitzuschreiben. Oder steht da vielleicht sogar schon die Diagnose?

Sie fragt mich nach Männern, Beziehungen. Völlig off-topic. Ich sei zwar momentan allein, es sei aber gar kein Problem, lüge ich. Bloß nicht noch mehr potentielle Gesprächsthemen schaffen. Das kostet ja nur wieder unnötig. Sie erzählt mir außerdem von einer lösungsorientierten Therapieform, die sie gerne anwenden würde. Klingt wie eine Mischung aus Scharade, Geisterbeschwörung und über glühende Kohlen laufen.

Gar. Keinen. Bock.

Nach 60 Minuten darf ich gehen. Ich übergebe ihr das Geld in bar. Wie einem Callgirl. Nächstes Mal überweise ich, vielleicht tut das weniger weh.

Als ich aus der Tür rausgehe, fühle ich mich ausgelaugt, verwirrt, erwachsen, arm, aber auch irgendwie stolz.
Alles wird gut.

 

PS:

Wer auch mal rausfinden möchte, ob er noch alle Tassen im Schrank hat, geht am besten wie folgt vor: Besucht euren Hausarzt und erzählt von eurem Problem. Ihn wird das nicht weiter jucken, er wird nicht komisch gucken, der hört das täglich. Der ist froh, dass ihr keinen eitrigen Abszess am Arsch habt. Streut am besten die Buzzwörter „Tabletten“, „arbeitsunfähig“ und „Pulsadern“ ein. Das sollte reichen, um 20 Stunden verschrieben zu bekommen. Passt aber auf, dass ihr nicht sofort zwangseingewiesen werdet.

Therapie ist Wellness fürs Gehirn. Ihr werdet es nicht bereuen. Es war zumindest die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe. Und was hat man schon groß zu verlieren, außer seiner Würde, eventuell Geld und dem Ansehen in der Gesellschaft? Eure Freunde werden euch deswegen nicht weniger lieben. Im Gegenteil. Ihr werdet euren Bekloppten-Bonus lange ausspielen können.
Mal keinen Bock auf Socializen? Jeder wird’s verstehen.
Lust, sich in der Öffentlichkeit akribisch einzelne Haare auszureißen? Jeder wird’s ignorieren.
Sich umherfahren, bekochen und in den Arm nehmen lassen? Jeder wird’s machen.

Und es sind auch die Freunde, die einem die sinnvollsten Dinge mit auf den Weg geben: „Freue mich schon, wenn du geheilt bist. Sag deiner Therapeutin aber, du brauchst noch einen Rest-Wahnsinn für deine Kunst.“

Danke dafür. Ihr wisst, wer ihr seid.

Heute bin ich eine geheilte Frau.

Heute bin ich eine geheilte, glückliche Frau. Und lebe in Paris.

 

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Der ganz normale Fieberwahnsinn. 

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4 Comments

  1. Einfach grandios!:D
    Danke Mutter.

  2. Jule Müller (Author)

    Schön, dass dich mein Wahnsinn entertaint, Nils. :)

  3. Dean Moriarty

    Tja Therapie kann schon sehr gut sein, kann auch Leben retten, kann mitunter aber auch schaden. Man liefert sich da eben ganz schön aus, ohne jegliche Kontrolle durch Dritte…Gerade beim Analytiker ist das schon sehr blackbox-hermetisch. Also Augen auf bei der Therapeut(inn)en-Wahl liebe Interessierte, kommt extrem darauf an, beim wem man ist.
    Sehr erfrischend jedenfalls so einen duftig-leichten Text zu einem (öffentlich leider ja oft) Scham-Thema zu lesen.
    Und die Rolle, in die Du mit diesem Blog schlüpfst, so „Deine Mutter“, also…naja… ist zumindest für jeden Analytiker natürlich ein gefundenes Fressen…
    Was Dich betrifft, Deine Leser und selbstverständlich auch die Typen wie mich, die hier Kommentare hinterlassen. Ich würde mir dann also wohl bei der nächsten Sitzung ggf. die Frage anhören müssen:“Welche inneren Konflikte oder unbewussten Wünsche könnten Sie bewogen haben, gerade dort zu kommentieren?“ – “Tja öhm…meine Mutter, ähh?!?”

    P.S.
    Ach übrigens das mit Couch ist alles andere als ein Komfort-Spaß…! Hat eher was von Nagelbrett, so im übertragenen Sinn…

    • Jule Müller (Author)

      Hallo Dean. Danke für deinen Kommentar.

      Bei diesem Thema halten sich die meisten eher bedeckt, weil es dann doch irgendwie peinlich berührend ist. Ich persönlich finde, man sollte mehr drüber sprechen. Ist halt so. Passiert. Jeder braucht mal Hilfe. Und wenn man offen damit umgeht, merkt man, dass fast jeder schon Erfahrungen mit dem Wahnsinn und der Beseitigung desselbigen gemacht hat.

      Ich hatte extremes Glück mit meiner Therapeutin. Beim ersten Treffen schon gewusst, dass die super ist. Bin mir sicher, dass es ne Menge ungeschickte Menschen da draußen gibt.

      Liebe Grüße. Deine Mutter. :)

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